Leseprobe

steine

Steine

Erzählung (Auszug/Anfang)

Kurz vor Mitternacht legt die Fähre ab. Kaum noch jemand, der um diese Jahreszeit auf die Insel will. Einige Rentnerehepaare, ein Mann mit einem Gitarrenkoffer, eine Handvoll Frauen, unter ihnen sie.
Der Weg zur Kabine. Der schmale, lange, schwankende Gang, der schwere, sperrige Rucksack mit der Yogamatte, die Judith vor ihrer Abreise noch schnell besorgt hat, links und rechts überstehend und sich dadurch bei jeder Wendung ihres Körpers verkeilend. Sie hat es schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Hafen bereut, sie und eine andere Frau mit einem riesigen Rollkoffer bildeten die Nachhut, während die anderen Frauen mitsamt der Leiterin ihrer Gruppe mit ihrem Handgepäck voraneilten. Viele von ihnen waren schon mehrmals auf der Insel. Man braucht dort nicht viel, sagten sie, du wirst schon sehen.
Der Gestank aus den Toiletten, dann die enge, heiße Kabine. Sie legt sich angezogen auf die Pritsche, schließt die Augen, was es aber nicht besser macht. Das Dröhnen der Motoren, das Schaukeln, die Hitze. Hinter ihrem Kopf ein Notlicht. Über ihr eine weitere Pritsche, unbelegt. Sie versucht es mit atmen – ein, aus.
Sie weiß, das da draußen ist nur Wasser.
Sie macht kein Yoga und Ansammlungen von Menschen geht sie normalerweise aus dem Weg, trotzdem hat sie sich zu dieser Reise angemeldet.
Warum?
Da war Ingrids Beerdigung, der Streit mit Hannah.
Eine halbe Stunde hält Judith es so daliegend aus, steht dann wieder auf. Wieder der Gestank gemischt mit Motorenöl. Von einer Crew keine Spur. Eine weitere halbe Stunde sitzt sie im Innenraum des Zwischendecks, ihre Hände umklammern die mit blauem Kunststoff bezogenen Armlehnen. Vor ihr zwei Schlafende mit zur Seite gekippten Köpfen und offenen Mündern. Sie vermeidet es zur Seite zum Bullauge zu blicken.
Noch einmal: das da draußen ist nur Wasser!
Wann hat dieser Zustand, ein besseres Wort fällt ihr im Moment nicht ein, angefangen? Im Nachtzug von München nach Arezzo, im Liegewagen den Brenner hinauf, dann auf der anderen Seite der Alpen steil wieder hinab, da hatte es bereits Anzeichen gegeben, ein Gefühl der Enge, aber eigentlich, sie ahnt es, liegt der Anfang viel weiter zurück.
Erneut steht sie auf, lässt ihr Gepäck in der Kabine, schwankt im Wellengang wie eine Betrunkene eine schmale Treppe hinauf. Vorbei an einer Caféteria, vor der längst rasselnd der Rollladen heruntergelassen worden ist, vorbei an Getränkeautomaten und weiter hinaus aufs offene Deck.
Feuchte, heiße Wärme auch dort, dazu das Meer, das jede Vertrautheit verloren hat, das nicht so ist, wie sie es von Bildern kennt, nicht blau oder wenigstens blaugrau, sondern schwarz. Ein glanzloses Schwarz, mehr Empfindung als Farbe. Die ferne Erinnerung, dass es im Althochdeutschen zwei Wörter für schwarz gibt, swartz und blach. Trübes und kräftiges Schwarz. Das hier, das ist definitiv swartz, denkt sie. Genauso und übergangslos der Himmel. Sie ist die Stadt gewöhnt, die Lichter. Das hier, das ist ein Schock, eine Zumutung für ihr ganzes System. Gleichzeitig steigt ein vages Gefühl der Empörung in ihr auf. Sie denkt an den Moment bei der Beerdigung, als Ingrids Sarg in dem Erdloch versank. Auch da diese Empörung. Etwas in ihr wehrte sich entschieden gegen den Kontrollverlust, den das Erdloch und dem, was damit verbunden war, bedeutete.
Die Beerdigung also.
Durch das Bullauge der Innendecks, deren Beleuchtung die ganze Nacht brennt, dringt spärlich Helligkeit. Judith ist offenbar nicht die einzige, die es in der engen, stickigen Kabine nicht aushält. Einige liegen zusammengerollt in Schlafsäcken auf dem Boden oder auf den Bänken, soviel kann sie sehen. Seitlich neben der Reling ein einzelner glimmender Punkt, eine Zigarette. Sie hält sich daran fest, setzt sich, sehr aufrecht und den Blick immer weiter auf den glimmenden Punkt gerichtet auf die äußerste Kante einer Bank, bereit gleich wieder aufzuspringen.
Es ist nur Wasser, Judith.
Sie ist entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, vielleicht gelingt es ihr ja, indem sie die anderen täuscht, auch sich selbst zu täuschen.
Du übertreibst. Du bildest dir das alles nur ein. Mehrmals in ihrem Leben schon hat sie das gehört.
Wann?
Warmer Nachtwind.
Die Fähre verkehre zweimal die Woche, hat man sie, während sie mit den anderen Frauen am Hafen, dem Porto die Napoli, auf die Öffnung des Ticketschalters wartete, aufgeklärt. Es gebe daneben auch die kleineren, leichteren, schnelleren Aliscarfis, die die Insel von Milazzo aus anfahren. Aber nur bis Ende September. Und auch nur solange das Wetter es zulasse. So oder so könne man um die Jahreszeit schnell mal ein paar Tage auf der Insel festhängen.
Judith betrachtet die Frau, zu der der glimmende Punkt gehört, genauer. Die Frau blickt, während sie raucht, den Ellbogen auf die übereinandergeschlagenen Schenkel gestützt und leicht vornübergebeugt, konzentriert durch den Spalt zwischen Reling und Seitenwand des Schiffes aufs Wasser.
Der obere Fuß im Rhythmus der Wellen wippend.